Rückenschmerzen gehören zu den häufigsten Gesundheitsbeschwerden in Deutschland. Schätzungen zufolge leiden etwa 60-80% der Erwachsenen im Laufe ihres Lebens mindestens einmal an Rückenschmerzen. In den letzten Jahren ist ein Anstieg der Fallzahlen zu beobachten, was unter anderem auf sitzenden Lebensstil, unzureichende körperliche Aktivität, vor allem aber auf psychische Belastungssituationen zurückzuführen sein könnte.
In einer Befragung der Techniker Krankenkasse gaben im Jahr 2020 über 30% der Befragten an, in den letzten zwölf Monaten unter Rückenschmerzen gelitten zu haben. Besonders betroffen sind Berufstätige, insbesondere in Berufen mit langem Sitzen oder starkem Stress. 15% der Deutschen, also insgesamt 12 Millionen Patienten, leiden unter chronischen Rückenbeschwerden, die schon länger als 6 Monate bestehen (Quelle: Robert Koch Institut).
Rückenschmerz ist nicht gleich Rückenschmerz
Die gute Nachricht dabei: nur in den wenigsten Fällen liegt dem Schmerz eine strukturelle Schädigung zu Grunde. Die meisten dieser Fälle fallen also unter die Kategorie „schmerzhaft lästig“ und nicht unter die Kategorie „medizinisch gefährlich“.
Solche Fälle bezeichnen wir als „nicht-spezifischen Rückenschmerz“. Hier gibt es keine erkennbare strukturelle Ursache. Die Schmerzen sind häufig diffus und können in Intensität und Lokalisation variieren. Oft sind sie mit alltäglichen Bewegungen verbunden, ohne dass eine spezifische Schädigung vorliegt.
Beispiele für nicht-spezifische Ursachen:
- Muskuläre Verspannungen: Oft verursacht durch Überlastung, Fehlhaltungen oder Stress.
- Körperliche Inaktivität: Bewegungsmangel kann zu muskulären Ungleichgewichten führen, die Schmerzen verursachen.
- Psychische Faktoren: Stress und emotionale Belastungen können sich ebenfalls in Form von Rückenschmerzen äußern.
Sehr viel seltener – nur bei etwa jedem 10ten Patienten – liegt ein sogenannter „spezifischer Rückenschmerz“ vor. Als spezifisch bezeichnen wir einen Rückenschmerz dann, wenn ein klar zuzuordnender Schaden vorliegt, der für die Schmerzen verantwortlich ist. Der Schmerz geht sehr oft mit typischen Symptomen einher, die auf die zugrunde liegende Ursache hinweisen. Dieser Schmerz wandert in der Regel nicht, wechselt nicht die Seite und ist vom Patienten häufig klar zu lokalisieren.
Beispiele für spezifischen Rückenschmerz:
- Bandscheibenvorfall: Hier drückt tatsächlich eine vorgefallene Bandscheibe auf Nervenstrukturen, was zu Schmerzen im gesamten Nervenverlauf führt. Die Schmerzen ziehen meist bis in die Zehen oder die Finger. Häufig kommt es zu neurologischen Symptomen wie Taubheit oder Schwäche.
- Unfälle: Stürze oder Unfälle verursachen Brüche der Wirbelkörper oder Verletzungen der Bänder. Beim gesunden (jungen) Erwachsenen sind dafür meist schwere Unfälle (Hochrasanztrauma, Sturz aus großer Höhe etc.) notwendig.
- Entzündungen: Erkrankungen wie Arthritis oder Infektionen, die direkt im Rückenbereich Schmerzen verursachen.
MRT und Zufallsbefunde
Wenn bei Patienten mit nicht-spezifischem Kreuzschmerz ein MRT durchgeführt wird, finden wir in den meisten Fällen krankhafte Veränderungen, sogenannte pathologische Befunde. Dabei handelt es sich aber in den allermeisten Fällen um asymptomatische Zufallsbefunde. Das bedeutet, dass diese Veränderungen der Wirbelsäule zwar auf den Bildern sichtbar sind, aber keinerlei Zusammenhang mit den aktuellen Beschwerden haben. Häufige Zufallsbefunde sind Bandscheibenvorwölbungen, Arthrosen der kleinen Wirbelgelenke oder generell Wirbelkörperdegenerationen.
Eine Studie, die diesen Sachverhalt beleuchtet, wurde bereits 2008 von Pippig veröffentlicht:
Im Rahmen der flugmedizinischen Untersuchung der Bundeswehr wurde bei 488 jungen Männern (Durchschnittsalter 19,8 Jahre) ein MRT der Lendenwirbelsäule angefertigt. Alle untersuchten Männer waren komplett beschwerdefrei. Trotzdem wurden bei mehr als 80% krankhafte Veränderungen in der Wirbelsäule gefunden. Diese knapp 400 Männer hatten also alle eine irrelevante Zufallsdiagnose, die weder Schmerzen verursacht hat noch behandelt werden musste.
Zu einem ähnlichen Ergebnis kam eine US-amerikanische Untersuchung, die ebenfalls an völlig beschwerdefreien PatientInnen durchgeführt wurde (W. Brinjikji et al, Am J Neuroradiol 2015): bei 80% der 50jährigen finden wir im MRT krankhafte Veränderungen der Bandscheiben, ohne dass diese Veränderungen Beschwerden verursacht hätten oder eine medizinische Relevanz gehabt hätten.
Die Auswirkungen von Zufallsbefunden
Aus diesen Untersuchungen lernen wir, dass MRT-Bilder der Wirbelsäule oft mehr Fragen aufwerfen als sie beantworten. Patienten mit unbedenklichen Befunden können so unnötig beunruhigt werden. Das Entdecken solcher Zufallsbefunde kann dazu führen, dass Patienten sich als „krank“ wahrnehmen, auch wenn sie keine Symptome haben. Dies kann psychische Belastungen und Ängste verstärken und sogar die Genesung behindern. Ein Patient könnte beispielsweise einen harmlosen Bandscheibenvorfall entdecken und befürchten, dass dieser schwerwiegende Probleme verursachen wird, obwohl dies in den meisten Fällen nicht der Fall ist.
Noch schlimmer: da alle Therapeuten – Ärzte, Physiotherapeuten, Osteopathen etc. – den Drang haben, Ihnen zu helfen, kann es zu einer Übertherapie kommen. Wir fangen an, Bildbefunde zu therapieren, die eigentlich für Ihr Wohlbefinden völlig irrelevant gewesen wären.
Sowohl Patient als auch Arzt neigen also dazu, eine falsche Kausalität herzustellen: „Ich habe Rückenschmerzen -> Auf den MRT-Bildern des Rückens ist etwas zu sehen -> Dieser Befund muss also schuld sein an meinen Schmerzen.“
Wie wir aber gelernt haben, ist diese Schlussfolgerung oft nicht richtig. Der Zusammenhang zwischen Bild und Beschwerden ist meist nicht größer, als wenn jemand mit Glatze wegen Kopfschmerzen zum Arzt geht und der Arzt sagt: „Kein Wunder, dass Sie Kopfschmerzen haben, Sie haben ja eine Glatze“.
Fazit
Vertrauen Sie uns! Oft ist Ihnen mehr geholfen, wenn wir auf ein MRT verzichten. Wenn wir wirklich nach dem Gespräch mit Ihnen und einer gründlichen klinischen Untersuchung den Verdacht haben, dass eine krankhafte Veränderung an der Wirbelsäule vorliegt, werden wir eine Bildgebung veranlassen. Aber auch dann müssen wir die angefertigten Bilder in Zusammenhang mit Ihren Beschwerden interpretieren: nur wenn eine Veränderung auch tatsächlich zu Ihren Symptomen passt, müssen wir diese Veränderung auch therapieren. Fast alle anderen Veränderungen dürfen wir getrost als Zufallsbefunde schnell wieder vergessen.
Ganz wichtig für Sie: wenn wir einen Rückenschmerz als nicht-spezifisch einordnen, bedeutet dies keinesfalls, dass wir weder diagnostisch noch therapeutisch aktiv werden. Gang im Gegenteil: es gibt eine ganze Reihe an therapeutischen Maßnahmen, die wir zusammen mit Ihnen ergreifen können, um Ihre Beschwerden zu lindern. Aber die Diagnostik konzentriert sich in diesem Fall auf eine gründliche Untersuchung mit den Händen (sogenannte klinische Untersuchung) und kommt sehr gut ohne eine Bildgebung mit Röntgen, CT oder MRT aus.
In einem unserer nächsten „Aktuelles-Artikel“ stellen wir Ihnen Ihre wichtigsten Erste-Hilfe-Maßnahmen gegen Rückenschmerzen vor.